Synästhesie, ein neurologisches Phänomen

3 Erste Beschreibungen von Synästhesie in der Wissenschaft

Erstmals wurde ein der Synästhesie ähnliches Phänomen 1690 von John Locke in seinem Aufsatz An Essay concerning human understanding erwähnt. Hier beschrieb er einen Blinden, der die Farbe Scharlachrot mit dem Klang einer Trompete in Verbindung bringt.[1] Auch der Augenarzt T. Woolhouse beschrieb 1710 einen Blinden, der Farben hören und ertasten kann (Wellek 1937).

1812 veröffentlichte der Mediziner G.T.L. Sachs einen Bericht über zwei Albinos, die Töne und Zahlen farbig wahrnahmen. Einen Zusammenhang zwischen Synästhesie und Albinismus konnte man jedoch bis heute nicht feststellen (Ione und Tyler 2004).

1873 bekannte sich J.A. Nussbaumer in der Wiener medizinische Wochenschrift dazu, Farb-Ton-Synästhetiker zu sein, in der Hoffnung, dass dies vielleicht ähnliche andere Beobachter hervorrufen würde, da seine Selbstbeschreibung der gängigen Lehrmeinung der spezifischen Energie der Sinnesnerven (nach Johannes P. Müller 1826) grundlegend widersprach. Ermuntert durch diese Beschreibung, brachte 1881 der Psychiater Eugen Bleuler, ebenfalls ein Synästhetiker, eine erste quantitative Untersuchung zur Synästhesie heraus, bei der er ca. 12 % von 600 Teilnehmern als Synästhetiker einstufte (Bleuler und Lehmann 1881) und diese 77 Synästhetiker sehr genau beschrieb. Dies ermöglichte ihm auch, synästhetische Wahrnehmungen miteinander zu vergleichen. Dadurch stellte er fest, dass die Photismen inter-individuell sehr verschieden sind und doch gewissen Gemeinsamkeiten folgen. So haben hohe Töne beispielsweise die Tendenz, helle Farben auszulösen. Auch schloss er aus, dass die Wahrnehmungen erlernt sein könnten und identifizierte als Entstehungsort das Gehirn. Eine weitere wissenschaftliche Abhandlung erschien 1880 mit Visualised Numerals bzw. 1883 mit Inquiries into human faculty von Sir Francis Galton, einem Cousin von Charles Darwin.

Der Begriff Synästhesie wurde wahrscheinlich erstmals 1866 vom französischen Physiologen und Neurologen Alfred Vulpian verwendet, allerdings in einem anderen als dem heute üblichen Verständnis.[2]

Locke geht es in seinem Essay allerdings nicht um Synästhesie im neurologischen Sinne. Siehe hierzu auch Kevin T. Dann, Bright Colors Falsely Seen: Synaesthesia and the Search for Transcendental Knowledge, Yale 1998, S.8–9. Das Beispiel des Blinden, das in Lockes Essay mehrmals zur Sprache kommt, wird im Rahmen einer wahrnehmungstheoretischen Fragestellung herangezogen. Locke argumentiert im Sinne seiner empiristischen Grundhaltung, dass geistige Vorstellungen notwendigerweise auf sinnspezifischen Wahrnehmungen basieren. Ein Blinder, der die Sinnesqualität Scharlachrot nie erfahren hat, verfüge über keinerlei Vorstellung dieser Farbe und versuche demnach, sich über sprachliche Analogiebildung (Klang der Trompete) über sie zu verständigen. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Book 3, Chapter 4, London 1690, http://oregonstate.edu/instruct/phl302/texts/locke/locke1/Essay_contents.html.  
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