4′33″
Bei der Premiere von 4′33″ am 29. August 1952 in Woodstock, New York, betrat David Tudor die Bühne, nahm am Flügel Platz und machte alle Anstalten zu spielen – aber stattdessen öffnete und schloss er den Deckel der Klaviatur am Anfang eines jeden der drei Sätze, verwendete für jeden Satz ein andere Pedalisierung und stoppte die Dauer der Sätze mit einer Stoppuhr. Im Übrigen verhielt er sich verhältnismäßig reglos und still. Diese Aufführung war seine Interpretation von John Cages Partitur, die in ihrer ersten, unveröffentlichten Version aus unbeschrifteten, jeweils paarweise angeordneten Notensystemen mit Zeitangaben (30″, 2′23″, 1′40″) bestand. Die erste veröffentlichte Form des Werks aus dem Jahr 1960 ist hingegen ein Text, der alle drei Sätze jeweils durch ein römisches Numerale und das Wort TACET wiedergibt. Diese zweite Version ist die bekanntere, die auch meist bei den darauf folgenden Aufführungen benützt wurde. Sie hat neu komponierte Zeitabläufe: 33″, 2′40″, 1′20″.
In den Anmerkungen, die Cage der publizierten Version beilegte, beschreibt er erst Tudors Uraufführung des Werks und fügt dann hinzu: "Das Werk kann aber von jedem anderen Instrumentalisten oder von einer Kombination von Instrumentalisten aufgeführt werden und ist von der Länge her beliebig gestaltbar." Interessanterweise besteht das veröffentlichte Notenmaterial aus einem schriftlich fixierten Anweisungstext, einem lateinischen Wort, das einen traditionellen musikalischen Terminus darstellt. Dies verankert das Stück fest in der musikalischen Tradition und macht es als Werk der Avantgarde noch wirkungsvoller. Es lohnt auch festzuhalten, dass das Wort TACET, mit dem das Schweigen eines Instruments angezeigt wird, beim Leser einen inneren Klang auslöst. Der musikalische Text existiert einzig und allein nur für den visuellen Eindruck, als Punkt, auf den sich der Aufführende und das Publikum konzentrieren können, und der die visuelle Komponente unterstreicht als unentbehrlichen Bestandteil eines jeden Performance-Rituals.
Angesichts der zentralen Rolle, die visuelle Elemente in Aufführungen von 4′33″ spielen, muss hervorgehoben werden, dass dieses Werk seinen Ursprung wenigstens teilweise dem Gebiet des Visuellen verdankt, und zwar den monochrom-weißen Bildern, die Cages Freund Robert Rauschenberg 1949 gemalt hatte. Diese Bilder sind so wenig leer oder unbemalt wie Cages Stück sich in Lautlosigkeit erschöpft; sie fungieren als Umweltoberflächen, auf denen sich Staubpartikel oder Schatten niederlassen. Sie sind ein Feld der Konzentration für die Räume, die sie einnehmen. Der Rahmen hat für das Bild dieselbe Funktion wie der Konzert-Anlass für die Musik: Er dient als Trennlinie zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Text und Kontext.
Die Lautlosigkeit stellt auch das Wesen ästhetischer Auseinandersetzung in Frage. Die Ansicht, dass Kunst eine distanzierte, ästhetisch empfundene Reaktion erfordert, die in isolierter Form und losgelöst von den anderen Sinnen rein visuell oder akustisch sich selbst genügt, wird durch Cages Stille, die alles andere als rein ist, parodiert. Während die moderne Kritik schweigende Kontemplation im Angesicht des Kunstwerks verlangt, in der alles außerhalb des einen Mediums unterdrückt wird, zeigt 4′33″, dass ein derartiger Zustand der Reinheit nicht existiert, dass es keine absolute Stille gibt.
Zwei wichtige Schlussfolgerungen ergeben sich aus der Aufführung von 4′33″. Erstens ermöglichte das Stück den Zuhörern, sich ihrer Rolle bei der Erzeugung von Klängen bewusst zu werden, ebenso wie ihrer Fähigkeit, solche Klänge als Musik zu hören: Das Publikum bestand aus Komponisten wie Zuhörern, die buchstäbliche Verkörperung der Musik. Und zweitens: Da das Stück den Zuhörern vonseiten des Ausführenden nichts zu hören bot, wurde ihnen eine andere Dimension dieses Anlasses doppelt bewusst: das Schauspiel, die visuelle Seite der musikalischen Aufführung. Kurz gesagt, während sich das Publikum anschickte, einer Sache zuzuhören, die es nicht gab – konventionelle Musik –, wurde es Zeuge einer anderen, die es sehr wohl gab: das Ritual der Aufführung, das den Aufführenden und seine sehr eingeschränkten Aktionen mit einschloss, den Konzertsaal, das Klavier in seinem Objektcharakter etc. Dann – wobei damit nicht notwendigerweise eine zeitliche Abfolge ausgedrückt werden soll – erkannte das Publikum, dass es selbst eine Rolle spielte als Erzeuger des kulturellen Tons. Das Sehen, der Aufführungsort, Ton, Performance und Publikum erweisen sich so als unauflösbar miteinander verknüpft und wechselseitig voneinander abhängig.
Cages Stück handelt jedoch nicht ausschließlich von Absenz; es hat auch mit Präsenz zu tun. 4′33″ ist ein Gesamtkunstwerk, wenn es auch eine Antithese zu Richard Wagners Idealen darstellt. Hier erhält Stille Vorrang vor Verstärkung und Koexistenz vor Synthese. Die Musik beansprucht nicht den ersten Platz unter den Künsten, und Lautstärke erstickt nicht die Stimmen der anderen Künste. In Cages Stille wird vielmehr deutlich, dass auch die anderen Künste Teil haben am Diskurs der Musik. Textuelle Elemente (wie die Partitur) sowie visuelle und theatralische Elemente sind bereits Teil des Gewebes der Musik und werden hier sichtbar als einzelne Stimmen in dem Chor, der erst in seiner Gesamtheit die Musik darstellt. Manche mögen nicht ohne Weiteres bereit sein, 4′33″ als Musik zu akzeptieren, was damit zusammenhängt, dass sie Musik ausschließlich mit Klang gleichsetzen; wenn selbst die Stille ihren Klang hat, zeigt Cage, dass Musik ein Diskurs ist.
- Originaltitel: 4′33″
- Datum: 29.8.1952
- Werkdauer: 4′33″
- Genre: Musikpartitur