Audiovisuelle Montage

2 Verfahrenstechnische Aspekte der A/V-Montage

Wenn die Montage die Anordnung der Einstellungen, ihre rhythmische, dramaturgische und erzähllogische Abfolge auf der Timeline bestimmt und begrenzt, dann gilt das nicht nur für die Bilder, sondern auch für die Töne. Die Editoren jonglieren nämlich auf dieser Achse außerdem mit den verschiedenen Arten von Klängen, die hinsichtlich ihrer Beziehung zu gezeigten Gegenständen oder Personen in reproduzierte und repräsentative Töne unterschieden werden können. Die Reproduktion (Wiedergabe) bezeichnet eine Gleichheitsbeziehung zwischen Original und Abbildung (bzw. Tonaufzeichnung, Anm. d. Verf.), formelhaft ausgedrückt A ist wie B.[4] Repräsentation (Darstellung) steht hingegen für eine Beziehung zwischen Original und Abbildung, die eine Transformation nicht ausschließt, zum Beispiel A klingt wie B. [5] Reproduzierte Töne wären demnach beispielsweise O-Töne, NTs, NS, ATs und zum Teil PTs, während als repräsentative Töne ADRs, Foleys, FX, SFX, Musiken und ALTs eingesetzt werden können.

Je nach Filmgattung sind reproduzierte und repräsentative Töne unterschiedlich gewichtet. Im dokumentarischen Bereich dominieren die reproduzierten Töne, da sie auf authentische Situationen referieren und damit glaubwürdiger sind. Im Spielfilmbereich dagegen erfordert der Illusionsaspekt die zusätzlichen repräsentativen Töne, insbesondere dann, wenn es um Science-Fiction geht. In den letzten Jahren ist jedoch auch im nonfiktionalen Bereich eine zunehmende Verwendung repäsentativer Töne zu verzeichnen, wenn z. B. aus dramaturgischen Gründen Foley Sound hinzugemischt wird. Für Black Box BRD (DE 2001) von Andres Veiel hatte beispielsweise Geräuschemacher Arpad Bondy für die Atmo der Deutschen Bank als artifizielles Sound Design ein kühles Rauschen synthetisch kreiert, das er aus Geräuschen eines Luftballons, dem die Luft entweicht, und eines rieselnden Regenholzes, einem botanisch authentischen Klangkörper, zusammenmischte. Christoph von Schönburg verwendete als Sound Designer für Touch the Sound (DE/UK 2004) von Thomas Riedelsheimer O-Töne aus einer Sequenz (Fabrikhalle bei Köln) auch an anderer Stelle (Straße in Manhattan mit Häuserfassade voller Airconditioner) in verfremdeter Form als repräsentative Töne.

Die Montage bestimmt im Vorfeld der Tonmischung auch das zeitliche Verhältnis der einzelnen Elemente auf Bild- und Tonebene, deren Schnitte und Übergänge in der Regel nicht identisch sind, sondern Off-und On-Töne gegenüber den Bildern über-, vor- oder nachlappen.

Diese Diskrepanz liegt darin begründet, dass Klänge eine andere Dauer und Präsenz auf der Zeitachse einfordern als die Bilderlängen der Einstellung.

Während Klänge, vor allem Sprache und Musikstücke, ihre Bedeutungen oder Wirkungen im Hörraum nur dann entfalten können, wenn ihnen eine angemessene Dauer eingeräumt wird, können Bilder in kürzesten Einstellungen Informationen vermitteln, Sprünge durch Raum und Zeit machen und eine andere Schnittfrequenz zeitigen als die Dialoge und Takte des Soundtracks.

Besonders deutlich wird diese unterschiedliche Handhabung von Bild und Klang bei Musikvideos, bei denen Ton- und Bildspur weitgehend voneinander unabhängig sind.

Frame Cuts, also die der Clipästhetik zugesprochene Eigenart, mit kürzesten Einstellungen aus nur wenigen Einzelbildern zu operieren, finden auf der Tonebene keine hörbare Entsprechung. Ganz im Gegenteil: Das Musikstück, für welches das Video produziert wird, läuft ohne Unterbrechungen durch.[6] Trotzdem besteht zwischen beiden Komponenten eine, wie Michel Chion es nennt, perzeptuelle Solidarität, die durch Synchronisationspunkte entsteht, an denen Schnitt und Beat zusammentreffen.[7]

Bei Dialogen liegt der Ermessensspielraum für den Cutting Point beim Editor. Die Montage legt den psychophysichen Dialogkontext fest, indem sie entscheidet, wer wann im On oder im Off von Leinwand oder Bildschirm gezeigt wird, ob in der Sukzession die Aktion oder Reaktion gezeigt wird. Denn hören kann man den Dialog komplett auf der Tonspur, sehen muss man jedoch nicht alles. Der Ton kreiert sein eigenes Raumempfinden. Die Netzhaut im Auge bildet die neurophysiologische Begrenzung des visuellen Feldes; durch den Lidschlag entstehen Zäsuren im Sehakt. Das Ohr hingegen kann man nicht schließen und man hört mehr in dem Raum, der einen umgibt, als man darin sehen kann. Wir können hinter uns etwas hören, aber nichts hinten sehen, wenn wir nach vorne schauen. Dies berücksichtigt die Montage als Spannungsmoment, wie beispielsweise beim Orientierungsreflex mit seinem Eye-follows-ear-Effekt, wenn die Montage im On oft nachliefert, was im Off schon gehört wurde. Fritz Langs erster Tonfilm M – Eine Stadt sucht einen Mörder (DE 1931) operiert gerade in der Expositionssequenz, in der Mutter, Töchterchen und Kindsmörder vorgestellt werden, für seine Zeit dramaturgisch schon hocheffizient mit den Anteilen von Off und On, um Spannung zu erzeugen.

Oft übernimmt der Ton auch die Homogenisierungsfunktion (oder eine unification, wie es Chion nennt) innerhalb einer Szene oder sogar beim alternierenden und parallelisierenden Cross Cutting zwischen den Sequenzen von Handlungssträngen.[8] Homogenisieren heißt dabei nicht Harmonisieren, sondern meint das Vereinheitlichen heterogener Bildpassagen durch die Kontinuität im Soundtrack. Bei Apocalypse Now von Francis Ford Coppola (US 1979) beispielsweise unterlegte Sound Designer Walter Murch ganz verschiedenartige Szenen mit Musikstücken der Doors.[9] Diese hört man sowohl in der Expositionsphase, in der Martin Sheen mit Flash Forwards (kurze motivische Vorgriffe, die sich erst später in der Filmhandlung entfalten) eingeführt wird, als auch beim Abschlachten eines Wasserbüffels als Opferritual in einem Tempelbezirk gegen Ende des Films, bei dem zeitlich simultan und inhaltlich parallel Marlon Brando in seiner Rolle als tyrannischer Herrscher von Sheen grausam umgebracht wird wird.

Alle Bild-Ton-Montagen verwenden Schnitt- und Layering-Techniken in grundlegend unterschiedlicher Art und Weise. Während es sowohl im konstruktivistischen als auch im Continuity-Schnitt üblich ist, Blickwinkel, Zeiträume oder unterschiedliche Orte verschränkt sequenziell zu schneiden, verbindet meistens konstant linear sich weiterentwickelnder Ton diese disparaten Ebenen, egal ob über Musik oder Off-Erzähler oder über den weiterlaufenden Szenenton einer Erzählebene. Gleichzeitig ist der Ton im Film immer mehrschichtig und damit tiefengestaffelt. Im Gegensatz dazu ist üblicherweise zu einem Zeitpunkt jeweils nur ein Bild zu sehen. Selten ist hierbei die Kopplung der Verfahren, also die Verbindung eines mehrschichtigen Soundtracks (Musik, Atmos, Effekte, Foley, Dialog, Voice-over) mit mehreren ineinandergestaffelten Bildern (z. B. bei Peter Greenaways Prospero’s Books, UK/NL/FR/JP 1991) oder Jump-Cut-Bild-Montagen in Kombination mit Jump-Cut-AB-Ton (z. B. bei Jacques Tatis Playtime, FR/IT 1967). Ein Beispiel für den experimentellen Umgang mit den Möglichkeiten von Schnitt und Layering ist Claus Blumes Kniespiel III (DE 1990), in dem er die musikalische Schichtung von rhythmischen Bestandteilen eines Beats auf den Umgang mit visuellen Elementen im Video-Editor überträgt.

Häufig angewendet wird eine Kongruenz zwischen dem AB-Schnitt auf der Ebene des Sound Designs und dem sequenziellen Jump-Cut-Verfahren auf der Ebene des Bildschnitts. Gleichzeitig bleiben die musikalische Entwicklung im Filmscore oder der über disparate Bild-Sound-Design-Sequenzen gesetzte Verlauf eines Erzähler-Voice-overs linear. Oft erfüllt gerade diese Bild-Ton-Relation eine Klammerung oder Homogenisierung von wilden Schnittsequenzen (bei fast allen Filmen von Francis Ford Coppola), während lange Plansequenzen zu wild wechselndem Ton eher im Experimentalfilm (z. B. bei Jean-Luc Godard) zu finden sind.

Gestaltungspotenzial für die Montage bietet auch die Perspektivenkopplung von Ton, der immer im 360-Grad-Umfeld gehört wird, und zweidimensionalem Film mit seiner Konvention, Achsensprünge zu vermeiden. So lassen sich Tableaus, die fast statisch die Relation zwischen dem Publikum und der vor ihm befindlichen Bühne bzw. Bildquadrage visuell etablieren, gerade im Tonraum um Dinge vor neben oder gar hinter der Filmbühne erweitern. Andrej Tarkowsky hat in seinen Mono-Filmen diese Möglichkeiten immer wieder genutzt, genauso wie sie heutzutage im Surroundkino exponiert etwa bei David Lynch oder Peter Greenaway zu finden sind.

Diese Beispiele sollen deutlich machen, wie bei der für die Rezeption kalkulierten Montage die audiovisuellen Verknüpfungen zu einer Einheit beim Filmerleben verschmolzen werden – Denn Montage ist vor allem eine Kategorie des Zusammenhangs.

Auf der auf Produktionsebene finden sich schon Entsprechungen, da auch bei der Herstellung eines Musiktracks häufig verschiedene Aufnahmen zusammengeschnitten werden. Im Unterschied zu visuellen Schnitten bleiben diese in der Wahrnehmung jedoch unbemerkt. (Vgl. Michel Chion, Audio-Vision. Sound on Screen, New York 1994, S. 41f.)  
Mit Walter Murch kam der Begriff Sound Design 1979 in die Filmgeschichte. Apocalypse Now ist der Prototyp der kunstvollen Tongestaltung, die mit dem Begriff Sound Design umschrieben ist. Betrachtet man Murchs Biografie und die anderer innovativer Montagisten, dann fällt ihre Nähe zum Laborieren mit Tonspuren auf. Walter Ruttmann, der als Experimentalfilmer mit visuellen Gegen-Rhythmen arbeitete, die er als Kontrapunkt bezeichnete, hat mit Berlin, die Sinfonie der Großstadt 1927 die sinfonische Montage im Dokumentarfilm eingeführt. Er war einer der ersten, die im deutschen Werbefilm mit den neuen audiovisuellen Möglichkeiten experimentierte (Deutscher Rundfunk, 1928, Melodie der Welt, 1929). Dsiga Vertov, der in Der Mann mit der Kamera (UDSSR 1929) die Möglichkeiten dokumentarischer Montage mit Elizaveta Svilova revolutionierte, hatte mit Tonexperimenten (Collagen, musikalisch-literarische Wortmontagen) begonnen und nannte Tonaufnahmen Radioauge und Filmaufnahmen Kinoauge. Nicolas Roeg, der in seinem Œuvre ständig nonlineare Montagepassagen im Erzählfluss auf der Zeitachse einbaut, begann in Großbritannien im Tonstudio seines Vaters mit Lippensynchronisation. Und Walter Murch bastelte schon als Schüler mit geschnittenen Tonbändern eigene Hörspiele, bevor er mit Francis Ford Coppola 1974 in The Conversation (US 1974) die Lust am Abhören thematisierte und dann 1979 in Apocalypse Now das Sound Design als neue Kunst präsentierte.  
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