Architektur und Musik

3 Architektur als gefrorene Musik

Kritik an der pythagoreischen Harmonielehre findet sich in Ansätzen bereits in der gotischen Architektur. Die ästhetische Prämisse, Schönheit bzw. Harmonie beruhe auf abstrakten und damit auf unveränderlichen Zahlenverhältnissen, wird in den architekturtheoretischen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts – exemplarisch in der Auseinandersetzung von Claude Perrault mit dem Neuplatoniker François Blondel – zunehmend in Frage gestellt. Die Aufhebung der objektiven Grundlage der pythagoreischen Harmonielehre wird letztendlich in der Romantik mit der Vorstellung vollzogen, dass die Ästhetik – wie in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft ausgeführt – eine Theorie des subjektiven Geschmacksurteils ist und die musikalisch-harmonischen Proportionen nur einer subjektiven Deutung oder der persönlichen Empfindung unterliegen.

Auch die romantische These – wie sie sich in Variationen bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Johann Wolfgang von Goethe findet –, dass die Architektur als versteinerte, erstarrte oder gefrorene Musik aufzufassen sei, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Sicherlich wird die Konzeption einer Harmonia mundi und die Vorstellung von musikalischen und architektonischen Analogien z. B. in Schellings Philosophie der Kunst noch nicht vollständig aufgehoben, aber das Verhältnis von Musik und Architektur verschiebt sich auf eine besondere Weise. Die Musik nimmt aufgrund ihrer Ungegenständlichkeit neben der Dichtung den höchsten Rang im Kanon der Künste ein, wohingegen die Architektur aufgrund ihrer groben Materialität ziemlich weit unten rangiert. Diese metaphysische Grundlegung der Künste, die Ungegenständlichkeit und Gegenständlichkeit gegeneinander ausspielt, wird deutlicher, wenn man z. B. zwei kunstphilosophische Thesen miteinander vergleicht. Gemeint sind die ganz im Sinne des Pythagoreismus geäußerte rationalistische These von Gottfried Wilhelm Leibniz, nach der die Musik eine geheime arithmetische Übung des zählenden Geistes ist, und Arthur Schopenhauers Parodie dieser These, nach der die Musik eher eine geheime metaphysische Übung des philosophierenden Geistes darstellt. Zusammenfassend lässt sich jedoch feststellen, dass die pythagoreische Harmonielehre in der Musik und Architektur – mit Erweiterungen oder Veränderungen oder in latenter Form – für Jahrhunderte die normative Grundlage von Komposition und Konstruktion war.

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