Technische Klang-Bild-Transformation

5 Audiovisuelle Transformation mittels Videotechnik

Wassily Kandinsky formulierte in seiner Schrift Punkt und Linie zu Fläche von 1926: Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden – und zwar durch die Vernichtung der höchsten und in sich geschlossenen Ruhe des Punktes.[22] Die Gültigkeit dieses Satzes für die Urszene eines Mediums, das prima vista mit der künstlerischen Zeichnung keine besonderen Gemeinsamkeiten aufzuweisen scheint, erläuterte Claus Pias in einem Aufsatz über die Genealogie der Computergrafik.[23]

Gemeint ist hier die elektromagnetische Ablenkung eines Elektronenstrahls im Inneren einer Kathodenstrahlröhre, dem bildgebenden Bauelement von Radardisplays, Oszilloskopen und Vektorbildschirmen.[24] Hier liegt das Bild nicht wie beim Film als Fläche vor, sondern als Akkumulation von Wegstrecken, die ein Leuchtpunkt auf einem Phosphorschirm mit hoher Geschwindigkeit zurücklegt. Das permanent fließende elektronische Bild konstituiert sich über die Zeit aufgrund der Trägheit unserer visuellen Wahrnehmung, wobei die vom Leuchtpunkt nachgezeichneten Strecken zu einer statisch erscheinenden Kurve verschmelzen. Diese Schweife des Leuchtpunktes sind ephemere Artefakte unserer visuellen Sinneszellen. Nur durch das fortwährende Nachzeichnen der Spur des Bildpunktes überwindet die Linie ihr Verschwinden ins Unsichtbare.

Rechtwinklig überlagerte Steuersignale, die auf elektromagnetischem Weg den Elektronenstrahl in der Bildröhre ablenken, beschreiben die Bewegung des Leuchtpunkts. Damit liegt das bewegte Bild im Video nur mehr als Signalfluss vor, wohingegen es beim Film an den Prozess der medialen Fixierung auf Zelluloid gebunden ist. Aus diesem Grund wurden im Unterschied zu Strategien der fotoelektrischen Klangerzeugung mit dem Lichtton im Video vorwiegend Methoden zur Visualisierung von Klängen bzw. Musik entwickelt. Im Unterschied zum bildnerischen Prinzip des statischen Zelluloids ist die zeitliche Kontinuität des elektronischen Bildsignals musikalisch als Klang der Ein-Zeilen-Abtastung zu verstehen.[25] Mikrofonierte oder synthetisierte Klänge bilden dementsprechend das Ursprungs- oder Inputsignal, das den Bildpunkt trägheitslos ablenkt. Die Frage nach den ästhetischen Konsequenzen dieser Flüchtigkeit und Immaterialität der elektronischen Bilder führte in den 1960er Jahren zu künstlerischen Experimenten mit dem videoimmanenten Potenzial zur Bilderzeugung durch Klang.

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Zeitrahmen:1920 – 1970
Werkbeschreibungen aus diesem Text