Tanz als Audiovision

8 Zeitgenössisches Ballett, Tanz und Technologie

Die Verwendung jeder Art von Sound hat sich auch im Ballett durchgesetzt. In den 1980er Jahren beginnt William Forsythe seine Dekonstruktion des klassischen Tanzes durch Übersteigerung und Manipulation seiner Prinzipien. Fragmentierungen und Diskontinuitäten erzeugen Freiräume im Bewegungsfluss und machen so die zugrunde liegende Architektur sichtbar. Überträgt Forsythe dieses Vorgehen in Steptext (1985) noch selbst auf die Musik, indem er Bachs Partita Nr. 2 BWV 1004 in d-Moll wiederholt abbricht[48], beginnt mit LCD (1985) seine andauernde Zusammenarbeit mit dem Komponisten Thom Willems. Sound und Choreografie bearbeiten dabei eigenständig dasselbe Konzept. Die Tänzer lesen etwa in Self Meant to Govern (1994) Codes zur Ausführung der Bewegung in Echtzeit von Monitoren ab, während die Klänge eines Metronoms und einer Violine live abgemischt werden.[49] 2005 beginnt Forsythe mit dem Forum Neues Musiktheater Stuttgart zu kooperieren: Über Richtmikrofone empfangene Atem- und Körpergeräusche der Tänzer steuern die Abspielung von Sounds. Solche M.P. Tools, mittels derer Tänzer ihre eigene akustische Kulisse kreieren, kommen in Three Atmospheric Studies und You made me a monster (beide 2005) zum Einsatz.[50]

Die Verbreitung und Weiterentwicklung von Überwachungs- und datenverarbeitender Computertechnologie eröffnen weitere Möglichkeiten. Um Bewegung zu registrieren, kommen physiologische Sensoren am Körper zur Abnahme von Puls oder Herzschlag zum Einsatz, aber auch Überwachungskameras oder Laser. Deren Informationen werden digital verarbeitet und in Sound, Bild oder Lichteffekte übersetzt. Die 1982 gegründete Company Palindrome von Robert Wechsler spezialisiert sich in Kooperation mit dem Ingenieur Frieder Weiss auf Programme wie die Software Eyecon: In einem Raum werden am Computer Bereiche markiert, die mediale Reaktionen auslösen, wenn der reale Körper sie kreuzt oder berührt. In Wechslers Press Escape (1998) wird das Publikum zu Performern und Musikern, indem es virtuelle Kontaktlinien durch das Heben der Arme aktiviert und Toneffekte auslöst.[51] Das Ensemble Troika Ranch verwendet in In Plane (1994) den MIDI-Dancer von Mark Coniglio. Sensoren an Hauptgelenken messen den Winkel, der sich aus der Beugung der Gliedmaßen ergibt. Eine Sende-Box kommuniziert mit einem Empfänger hinter der Bühne, der die gemessenen Werte in MIDI-Signale umwandelt, die über Verknüpfungsentscheidungen in der Software die Licht-, Bild- und Ton-Erzeugung regeln.[52] Die taube Tänzerin Chisato Minamimura behandelt in The Canon for Duet (2008) Musik als visuelles Element in Form einer bewegten Grafik.

Inwiefern solche Experimente über die bloße Kopplung des Tanzes mit bereits im romantischen Ballett dem konzeptionellen Soll der Bewegung untergeordneten visuell-akustischen Elementen hinausgehen, hängt von der Transparenz der Anordnungen ab. Werden Tanz und Sound lediglich in ein Auslöser-Effekt-Verhältnis gesetzt, werden die Körper zu Musikmaschinen.[53]

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